Die deutsche Spitzenkandidatin der SPD für die Europawahl 2019 sagt von sich, sie sei Europäerin „durch und durch“. Katarina Barley vertritt diese Behauptung authentisch: Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater Brite. Die Juristin studierte in Frankreich, ihr deutscher Wahlkreis grenzt an Luxemburg. Als Wähler mag man ihr hier eine europäische Gesinnung glauben. Doch das allein wird am kommenden Sonntag nicht zählen. Jeder Kandidat und jede Kandidatin wird in der letzten Phase des Wahlkampfs auch daran gemessen werden, wie er oder sie in persönlichen Begegnungen wirkte. Nein, nicht nur beim Schlagabtausch mit Mitbewerbern im TV-Duell, sondern auch im 1:1 mit anderen auf der Strasse, bei der Podiumsdiskussion oder Veranstaltungen. Die Frage nach dem Menschen hinter der Rolle des Politikers oder der Politikerin entscheidet bei der Stimmabgabe nämlich mit.

Wahrnehmung und Wertschätzung sind der Schlüssel zum Herzen des Gegenübers

Manchmal ist es nur ein kurzer Moment der Begegnung, der bei uns Eindruck hinterlässt und fortan die Sicht auf den Menschen, dem wir begegnet sind, verändert. Eine Grundhaltung des Wohlwollens anderen gegenüber kann hier der Schlüssel zum positiven Image sein. Denn diese innere Haltung wird bei einer Begegnung nach aussen spürbar.

Zwei kurze Begegnungen mit bekannten Politikern während meiner Zeit als Diplomatin haben sich mir ins Gedächtnis gebrannt: Die erste Begegnung war mit dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton, kurz nach seiner Wiederwahl für eine zweite Amtszeit, bei einer sogenannten Inauguration Party. Die Amtseinführung eines amerikanischen Präsidenten, die Inauguration, ist ein demokratisches Ritual, an dem das gesamte politische und diplomatische Washington intensiv Anteil nimmt. In der ganzen Stadt gibt es Partys und Bälle, auf denen Politiker, Diplomaten, Journalisten sowie zahllose Gäste aus Wirtschaft und Gesellschaft feiern. Der Präsident fährt im Laufe des Abends zu möglichst vielen dieser Veranstaltungen, und wie Sie sich sicher denken können, wollen dort fast alle dem Staatsoberhaupt zumindest kurz die Hand geben, um zu gratulieren.

Als österreichische Diplomatin war ich am 20. Januar 1997 auf einer Inauguration Party und traf Bill Clinton. Wir waren uns nie zuvor begegnet und er hatte keine Ahnung, wer ich war, woher ich kam und wo ich arbeitete. Doch Bill Clinton strahlte, sah mir in die Augen und gab mir die Hand. Und obwohl er an diesem Abend wohl schon Tausende Hände fremder Menschen geschüttelt hatte, spürte ich, wie er mich in diesem Moment als Menschen wahrnahm. Er gab mir das Gefühl, dass nur ich in diesem kurzen Augenblick für ihn wichtig war. Für ein paar Sekunden war er mit seiner gesammelten Aufmerksamkeit bei mir. Wenn mich heute jemand fragt, was für mich Charisma bedeutet, dann erinnere ich mich sofort an diese Begegnung. Charismatische Menschen sind in der Lage, anderen jederzeit ihre konzentrierte Aufmerksamkeit zu schenken und ihnen damit das Gefühl zu geben, als Person zu zählen.

Wenn äusseres Handeln und innere Haltung nicht zueinander passen entsteht Distanz

Bill Clinton kannte meine funktionale Rolle in der Diplomatie nicht, doch er brauchte dieses Wissen auch gar nicht, um mir auf der menschlichen Ebene mit ungekünstelter Herzlichkeit zu begegnen. Vollkommen anders verlief meine erste Begegnung mit der späteren deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel am 16. Oktober 2003 beim Focus-Fest in Berlin. Hubert Burda, der Verleger des deutschen Nachrichtenmagazins Focus, hatte wie jedes Jahr fast 1’500 Prominente aus Politik, Wirtschaft und Medien zu einer grossen Party eingeladen. Obwohl ich Frau Merkel auf dem Fest ordnungsgemäss vorgestellt wurde und sie sogar für ein gemeinsames Foto in die Kamera lächelte, gab sie mir das Gefühl, für sie Luft zu sein. Ihr ausdrucksloser Blick schien geradewegs durch mich hindurchzugehen. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war.

Ein paar Sekunden echter Aufmerksamkeit reichen bereits für einen positiv erlebten Kontakt

Wenn ich heute diese beiden Begegnungen vergleiche, dann ist mir klar: Um den Menschen hinter einer Rolle zu sehen, brauche ich mich nicht erst stundenlang mit jemandem zu beschäftigen. Es genügen manchmal schon ein paar Sekunden echter Aufmerksamkeit, und der Kontakt ist hergestellt.

Komme ich als Beraterin in Unternehmen, dann fallen mir dort manchmal zwei ganz unterschiedliche Typen von Führungskräften auf. Der eine läuft morgens mit einem regelrechten Tunnelblick durch die Gänge zu seinem Büro, in dem er sich dann für den Rest des Tages – oder bis zu einem externen Termin – verschanzt.

Der andere, oft als Unternehmer oder Geschäftsführer im Mittelstand anzutreffen, macht es genau umgekehrt: Immer, wenn er in die Firma kommt, sucht er zunächst den Kontakt zur Belegschaft. Er läuft durch Flure, macht vielleicht sogar einen Schlenker durch die Montagehalle, sagt überall „Hallo“ und schüttelt Hände. Führungskräfte, die sich die Zeit für solche kleinen Gesten nehmen, wissen meist intuitiv, wie sehr sich diese Investition lohnt. Indem sie einen Mitarbeiter für einen kurzen Moment als Menschen sehen und ihm ihre gesammelte Aufmerksamkeit schenken, sorgen sie für Verbundenheit und eine positive Grundstimmung am Arbeitsplatz. Die Wirtschaft der Zukunft wird den ganzen Menschen fordern. Die EU-Politik auch.